Dagesh zeichnet in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Berlin herausragende Nachwuchskünstler*innen aus, die sich mit jüdischen Gegenwartspositionen und -erfahrungen sowie mit Fragen zur Gestaltung eines gesellschaftlichen Wandels auseinandersetzen. Der Dagesh-Kunstpreis wurde 2018 erstmalig vergeben. Ausgezeichnet wurden die bildende Künstlerin Liat Grayver, der Produktdesigner Yair Kira und der Komponist Amir Shpilman für ihr Werk „Open, Closed, Open“.
Bei der multimedialen Installation interagieren die Besucher_innen mit einem Roboter und bearbeiten gemeinsam eine große Sandfläche mit hebräischen Buchstaben. Das Geschehen wird filmisch aufgezeichnet, in einen zweiten Raum projiziert und somit der Beobachtung überantwortet. Eine musikalische Komposition menschlicher Stimmen begleitet und verbindet das Geschehen. Das Werk birgt kabbalistische Aspekte und verdeutlicht zugleich die Fluidität von Erinnerungen und Identitäten. Die Installation wird im Sommer 2019 im Jüdischen Museum Berlin ausgestellt.
Liat, Yair, Amir, Glückwunsch zum ersten Dagesh-Kunstpreis! Wie waren eure ersten Reaktionen auf das Thema „Was bedeutet Jüdisch-Sein heute?“?
Liat: Der Titel der Ausschreibung hat mich sofort provoziert. Ich fühlte mich angezogen von dem Thema, das die privatesten und intimsten Teile meiner Identität und meines Selbstverständnisses als Individuum berührte. Andererseits wehrte ich mich gegen die Idee, die Verantwortung zu übernehmen und auf diese große historische, gesellschaftliche und politische Frage zu antworten. Außerdem gab es den Kontext, in dem die Frage gestellt wurde: Deutschland. Wie würde man die Frage zum Beispiel verstehen, wenn sie in Israel, oder New York gestellt werden würde? Als Künstlerin, die in einer jüdischen, irakischen Einwandererfamilie im israelischen Hinterland groß geworden ist, und die seit zehn Jahren in Deutschland lebt, weiß ich, dass der Kontext nicht nur unsere Antworten verändert, sondern auch die Fragen, die wir stellen.
Diese Komplexität machte mir klar, dass ich die Herausforderung annehmen wollte. Allerdings schien mir eine multidisziplinäre, gemeinschaftliche Herangehensweise notwendig, die auch den Kontext berücksichtigen würde. Yair war einer der Ersten, der mir in den Sinn kam. Ich kannte seine Arbeit über ELES und Dagesh und wir hatten bereits lebhaft über Fragen von Identität diskutiert und darüber, wie sich diese privaten Aspekte auf unsere Arbeit auswirken und in ihr spiegeln – thematisch, ästhetisch, strukturell.
Yair: Seit ich nicht mehr in Israel lebe, betrachte ich meine Identität und die Frage nach dem, was mich jüdisch macht, neu. In Israel wurde mir diese Frage nie gestellt, weil mein Jüdisch-Sein konstitutiv definiert wurde. Als ich ein ELES-Seminar über das Jüdisch-Sein in einer inklusiven Gemeinschaft besuchte, diskutierten wir über die jüdische Praxis in unterschiedlichen Gesellschaften. Es war spannend, wie sich z.B. die britische Community von der deutschen oder israelischen unterschied. Seitdem untersuche ich meine jüdische Kultur aus einer anderen Perspektive, sowohl persönlich als auch künstlerisch. Für diese Arbeit wollte ich Materialität in die deutsch-jüdische Erfahrung einbringen, die ich meist als intellektuell und spirituell erlebt habe.
Als Liat zu mir kam, hatte ich schon eng mit Amir zusammengearbeitet. Wir hatten drahtlose Boxen entwickelt, Dynamic Speakers, und „Tiferet“, eine Musiktheater-Performance, die im Rahmen der Radikalen Jüdischen Kulturtage 2017 Premiere am Berliner Maxim Gorki Theater feierte. Es war einfach selbstverständlich, dass Amir sich dem Projekt anschließen und die Fähigkeiten der Gruppe bereichern würde.
Amir: Auch ich war erst einmal hin- und hergerissen vom Thema des Wettbewerbes. Es war so persönlich und intim und alles andere als leicht. Als Künstler möchte ich außerdem für den Inhalt meiner Arbeit anerkannt werden, und nicht für meine Kultur und Identität. Aber schnell wurde klar, dass Liat und Yair dieses Gefühl teilten.
Wie sah Eure Zusammenarbeit aus?
Yair: Wir arbeiten als Team, in dem jede_r sein/ihr Know-How und Expertise einbringt und alle künstlerischen Entscheidungen gemeinsam getroffen werden. So haben wir eine Basis für innovative Schöpfungen, die nur aufgrund unseres gegenseitigen Vertrauens entstehen. Ich arbeite z.B. mit 3D-Druckfirmen und mit Ingenieur_innen aus der Maker-Szene zusammen, um einen Roboter zu entwickeln, der Elemente der hebräischen Sprache in den Sand schreiben wird.
Amir: Da das Werk für die Besucher_innen partizipativ und erlebnisbasiert gestaltet ist, hilft mein Wissen über die Komposition von Bühnenstücken dabei, aus einer performativen Perspektive die verschiedene Komponente des Werkes zu orchestrieren. Wie entfaltet sich z.B. die Beziehung zwischen der Bewegung der Besucher_innen und der Projektion, wie wird der Kasten mit Sand als Bühne für Licht und Klang behandelt – all das gehört zu meinen musiktheatralischen Erfahrungen. Für „Open, Closed, Open“ arbeite ich mit Opernsänger_innen zusammen. Wir schaffen Klangelemente, die in einem Tonstudio an der Hochschule für Musik Dresden aufgenommen werden. Bühnenbildner_innen der Deutschen Oper beraten uns bei der Beleuchtung.
Liat: Momentan besetze ich eine Artist-in-Residence-Stelle an dem Exzellenzcluster der Universität Konstanz, und einen Vertigo STARTS-Aufenthalt am InfoMus Lab der Casa Paganini in Genua, Italien, wo ich Methoden zur Integration von neuen Technologien in künstlerische Praxis untersuche. Diese Aufenthalte ermöglichen mir den Zugang zu Hardware- und Softwareentwickler_innen, die zur Entwicklung und Schaffung von Video- und Roboterelementen im Rahmen von „Open, Closed, Open“ beitragen.
Inwiefern gibt Eure Installation Antwort auf die Frage nach „Jüdisch-Sein heute“?
Liat: Heute gibt es eine immer größer werdende internationale Community in künstlerischen, wissenschaftlichen und urbanen Zentren wie Berlin oder Tel Aviv. Diese schafft und reflektiert Kultur und gestaltet diese wiederum ständig um. Dies entspricht der dynamischen Transformation unserer Gesellschaft durch Technologie und Medien, von der freiwilligen oder erzwungenen Migration ganz zu schweigen, die zu einer Vermischung von Kulturen führt. Diese gemischte, fragmentierte und oft widersprüchliche Gesellschaft haben wir lange als „Home Base“ betrachtet. Auch weil sie sich für uns, aus Israel stammend, vertraut anfühlte. Dieses fragmentierte, dekontextualisierte Erlebnis ist der Raum, den wir in „Open, Closed, Open“ untersuchen.
Eine Hauptinspiration für die Schöpfung des Werkes und Namensgeber, ist Yehuda Amichais Gedicht „Open Closed Open“, das mich seit meinem Umzug nach Deutschland begleitet. Mit unserer Arbeit, mit Raum, Sand, Klang, und Licht, nehmen wir auf Amichais Poesie Bezug. Auch der Einsatz von hebräischer Poesie (das Symbol des biblischen AlphaBet) in einem säkularen Werk ist ein gutes Beispiel für den Weg, den wir zu unterstreichen versuchen.
Yair: In „Open, Closed, Open“ betrachten wir das Jüdisch-Sein nicht als Hauptgegenstand, sondern als einen Aspekt des Kunstwerks. Es zeigt sich in der Materialität und im Erlebnis der Gruppendynamik, die am Ausstellungsort entsteht. Die Besucher_innen erarbeiten selbst die Antwort auf die Frage, indem sie sich im Werk befinden und in ihm und miteinander interagieren. Das Kunstwerk versucht nicht, eine Antwort zu finden, sondern schafft den Freiraum, darüber nachzudenken. Und überhaupt: Sollte man als „guter“ Jude eine Frage nicht mit einer Frage beantworten?
Amir: Für uns symbolisieren zwei Hauptthemen die Wahrnehmung von jüdischer Identität. Das erste ist Bewegung. Bewegung beeinflusst jüdische Identität aus physikalischer, historischer, spirituell-psychologischer und linguistischer Perspektive. Bewegung, Migration und Einwanderung sind ein großes Thema im jüdischen Erbe. Vom Exodus bis ins moderne Leben in der Diaspora – jüdische Menschen waren immer unterwegs. Auf der spirituellen Ebene erfahren wir mittels der jüdischen Mystik – Kabbala – von der Dehnbarkeit des Geistes und der Idee, dass kreativer Reichtum und Erkenntnisprozesse agil sind. Sie entwickeln sich durch die Bewegung der Gedanken ständig weiter. Im Hebräischen wird jeder Klang durch „Tnuot“ bestimmt, Vokale, die die Bewegung der hebräischen Aussprache betonen. Das zweite wichtige Thema ist die Erkenntnis, dass jüdische Identität sich ständig verändert. In unserer Installation für das Jüdische Museum Berlin schaffen wir eine Umgebung, die Selbstreflexion fordert. In unserem Kunstwerk beeinflusst die Handlung jeden Besuchers das Gesamtergebnis und formt das Kunstwerk.